Da druber hed mä nid gredt

 

Das Begräbnis von totgeborenen Kindern in Giswil vor 1983 im «Chilälechli»

 

Die frühere kirchliche Praxis, die neue Bundesverfassung und der heutige Umgang mit

Sternenkindern

Die Weigerung, fehl- und totgeborene Kinder (Sternenkinder) auf dem Friedhof beizusetzen,

wurde in der Geschichte unterschiedlich begründet. Waren es in vorreformatorischer Zeit

christlich-religiöse Gründe (Heilsnotwendigkeit der Taufe zur Abwaschung der E rbsünde)

gepaart mit dem Umstand, dass sowohl Friedhofswesen wie auch Zivilstandsregister in

kirchlicher Hand waren, änderte sich das Blatt mit der Reformation und die Frage wurde zu

einem konfessionellen Problem. Während die römisch-katholische Kirche an der Weigerung

festhielt, gewährte die reformierte Kirche das Begräbnis als Folge der Theologie Huldrych

Zwinglis, wonach die Kinder nicht getauft werden müssten zur Abwaschung der Erbsünde.

Dies war möglich, weil das Friedhofswesen nun vor allem in den reformierten Kantonen in

den Händen der weltlichen Gewalt lag. Die Verunsicherung der reformierten Gläubigen über

das ewige Schicksal ungetauft verstorbener Kinder blieb allerdings, was die Praxis des

heimlichen Begräbnisses unter der Dachtraufe belegt.

Im 19. Jahrhundert wurde die Frage des Begräbnisses der Sternenkinder zu einem

rechtlich-säkularen Problem. Das von der Bundesverfassung von 1874 gewährte Recht auf ein

schickliches Begräbnis kam nur Personen zu. Wer ab wann als «Person» gelten kann, wurde

in den Zivilstandsverordnungen 1953 und 2004 unterschiedlich geregelt.

Seit 1983 gewährt auch das katholische Kirchenrecht den Sternenkindern ein

kirchliches Begräbnis. 2007 verabschiedete sich die katholische Kirche auch offiziell von der

Vorstellung der Heilsnotwendigkeit der Taufe. Heute gibt es in der Schweiz auf fast allen

Friedhöfen ausgewiesene Grabfelder für die Beisetzung von Sternenkindern.1

 

Das Chilälechli in Giswil

Das heute noch sichtbare, jedoch nicht mehr im Gebrauch stehende «Chilälechli» wurde erst

1910 gebaut. Über einen Vorgängerbau ist nichts bekannt. Das Projekt wurde vom

Kirchenvogt Niklaus Röthlin, der die Kosten im Kirchenrechnungsbuch 1897 – 1948 festhielt,

etwas verschämt und fehlerhaft als «Maassengrab» bezeichnet. Bauunternehmer Alois

Abächerli «Sagäwisi»2 forderte für seine Arbeit Fr. 88.35. Josef Ming brachte Steine und Sand

auf den Platz und stellte Rechnung für Fr. 24.-. Das Eisentürli fabrizierte Schmid Arnold

Vogler. Total kostete das kleine Bauwerk Fr. 137.05, was nach heutigem Geldwert ca. Fr.

15’000.- beträgt.

Interessant ist der Aufwand, der betrieben wurde um die Grabstätte ausserhalb der

geweihten Friedhoferde zu platzieren. An der Aussenseite der Friedhofmauer betonierte

man einen erkerartigen Anbau. Durch das Eisentürli wurde das tote Kind auf eine schräge

Ebene gelegt und es rutschte aus dem Sichtfeld des Kirchensigristen in einen tiefen Schacht.

Eine Schaufel Kalk und Erde beendete die würdelose Prozedur.

Wie lange bei uns das «Chilälechli» noch im Einsatz war, konnten wir nicht in

Erfahrung bringen. Einträge in den Kirchenbüchern gab es keine, da es sich ja um ungetaufte

 

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1 Pahud de Mortanges, Elke ; (K)ein Grab für Sternenkinder in der Schweiz : katholische, reformierte und zivilrechtliche Antworten und Auswege von der Reformation bis heute.

2 Siehe dazu: Hausgeschichte 3 ab Seite 67

 

Kinder handelte. Ab und zu liest man im Kirchenrechnungsbuch unter der Rubrik «Verschiedenes», dass Kirchensigrist Oskar Gasser aussergewöhnlichen Aufwand in Rechnung stellte, ohne diese Arbeit näher zu beschreiben. Allerdings oblag ihm, neben der Betreuung des «Chilälechli», auch die Entgegennahme und Entsorgung von gesegneten Gegenständen. Laut Karl Imfeld, Kerns waren brennbare Gegenstände dem Osterfeuer zu übergeben, nicht Brennbares musste zerbrochen und vergraben werden. Tatsächlich fanden wir bei der Renovation der Waschhütte in der Sigristenpfrund zahlreiche, eher oberflächlich vergrabene und zerbrochene Dinge, mehrheitlich Kreuze.

Die HVG hat den, im Laufe der Zeit, verwahrlosten Ort sanft restauriert und in seinen

ursprünglichen Zustand zurückversetzt.

Das Chilälechli in Giswil:

1 = verschliesbares Eisentürli,

2 = schwere Steinplatte,

3 = Betonkonstruktion,

4 = Schacht.

Das sanft restaurierte «Chilälechli», das sich aussen an der nördlichen Friedhofmauer befindet. Die Konstruktion trägt die Handschrift seines Baumeisters «Sagäwisi».


 

Stimmen zum Chilälechli

 

Hedy Burach, Hebamme, 1912-2010: «Es war auch Aufgabe der Hebamme, totgeborene Kinder dem Kirchensigrist zu bringen. Er warf sie auf dem Giswiler Friedhof in einen tiefen Schacht oder legte sie einer eben verstorbenen Person mit ins Grab. Kinder welche kurz nach der Geburt starben, erhielten ein richtiges Begräbnis.»3

 

3 Zitiert aus dem Buch «Sozusagen, Frauenleben in Obwalden», Sarnen 2003 S. 57

 

 

Helen Degelo – Ming, 1925: «Zum grossen Glück ist mir so ein Erlebnis erspart geblieben. Von Betroffenen hörte ich, dass die Hebamme oder der Vater den toten Fötus zum Kirchensigrist zu bringen hatte. Dieser warf ihn in ein Loch, wo dieses Loch war oder ist weiss ich nicht. Da druber hed mä nid gredt.»

 

Karl Imfeld, Kerns 1931-2020: behandelt diese für Betroffenen traumatische Erfahrung lediglich mit einem kurzen Satz: «Ein mit einer Eisentüre verschliessbares Grab in der Friedhofmauer, das «Chilälechli» war für tot geborene oder ungetaufte Kinder.»4

 

Andreas Anderhalden: Eine solche Einrichtung besass jede Obwaldner Gemeinde z.B. auch Sachseln. Die Leichen dieser kleinen Geschöpfe wurden nackt oder in einem Kindersarg in die feuchte Erde hineingelegt und aus seuchenpolizeilichen Gründen mit Chlorkalk überdeckt. Das «Chilälechli» in Sachseln war noch bis ca. 1970 in Gebrauch.5

 

 

HVG 2024, L. Degelo

 

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4 Imfeld Karl; Volksbräuche und Volkskultur in Obwalden S. 241

5 Anderhalden Andreas; Gebresten, Pest und Badestuben. S. 159ff